Ines Zschüttig:
"Wenn man Kinder in solchen Krisen kennengelernt hat, ist es schwierig, über Betriebskennzahlen zu sprechen."
Ines Zschüttig ist Sozialpädagogin und leitet die Ökumenische Telefon-Seelsorge Leipzig. Für rund 50 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist sie verantwortlich. Anfang der 1990er Jahre hatte sie zunächst eine kaufmännische Lehre absolviert. Danach wollte sie studieren und Wirtschaftsingenieurin werden. Dafür hatte Ines Zschüttig das Wirtschaftsabitur nachgeholt. Doch auf einen Studienplatz musste sie lange warten. Um die Zeit zu überbrücken, nahm sie Verwaltungsstelle bei der Stadtmission Chemnitz an. Drei Monate lang koordinierte sie Selbsthilfegruppen für Menschen mit schweren Krankheiten. "Dort herrschte ein ganz anderes Arbeitsklima als das, was ich aus der Wirtschaft kannte. Das hat mich fasziniert", erinnert sich Zschüttig.
Am Ende der Vertretungszeit wurde ihr ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) angeboten, in der Jugendsozialarbeit der Stadtmission. Ines Zschüttig hatte Interesse und dachte: "Dann beginne ich das Wirtschaftsstudium eben ein Jahr später." Sie arbeitete als Streetworkerin, betreute Kinder und Jugendliche , die auf der Straße und in Abrisshäusern lebten. "Der Wunsch, Wirtschaft zu studieren, war irgendwann weg. Wenn man einmal Kinder in solchen Krisen kennengelernt hat, ist es schwierig, über Betriebskennzahlen zu sprechen", sagt Zschüttig.
Mit Menschen in Krisensituationen hat Zschüttig auch heute als Leiterin der Telefonseelsorge zu tun. Ohne die Erfahrungen aus der FSJ-Zeit könnte sie diese Arbeit nicht machen, sagt sie. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten ausschließlich ehrenamtlich. Zschüttig muss sie für diese Arbeit gewinnen, bildet sie aus und begleitet sie. "Vor meinem FSJ habe ich nicht verstanden, warum sich Menschen ehrenamtlich engagieren. Mit meiner betriebswirtschaftlichen Sicht habe ich gedacht: Das hat doch keinen Nutzen."
Das FSJ hat ihren Blick auf das Ehrenamt damals grundlegend geändert. Mit ihrer Biographie und ihren Erfahrungen kann sie heute Menschen für die Arbeit in der Telefonseelsorge motivieren: "Es ist ein unschätzbarer Wert, dass es Menschen gibt, die einfach so rund um die Uhr für andere da sind, ein offenes Ohr haben und versuchen, sich deren Probleme vorurteilsfrei anzuhören."
Ines Zschüttigs Berufsweg:
Nach ihrer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau machte sie 1994/95 ein FSJ in der Jugendsozialarbeit der Stadtmission in Chemnitz. Danach studierte sie Sozialwesen an der Fachhochschule Hildesheim/Holzminden. Die Diplom-Sozialpädagogin leitete ab 2001 fast sechs Jahre lang ein Mädchenwohnprojekt in Syke bei Bremen. Anschließend arbeitete sie in der Koordinierungs- und Interventionsstelle Wegweiser e.V. in Böhlen bei Leipzig. Mehrere Jahre engagierte sie sich ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge Leipzig. Diese ökumenische Einrichtung leitet sie seit 2012 hauptberuflich.
Josef Brandt:
"Wer ist eigentlich behindert? Oder wer behindert wen?"
"Der Zivildienst hat meinen Blickwinkel verändert", sagt Josef Brandt. "Und hat mir manche Grunderfahrungen für meinen heutigen Beruf mitgegeben." Seit 2005 ist Brandt Leiter des Fachbereichs Behindertenhilfe bei der Diakonie Leipzig. Er ist für mehrere Wohnstätten verantwortlich, hinzu kommen drei Werkstätten, eine Förderschule für Menschen mit Behinderungen und eine Beratungsstelle und Begegnungsstätte. Insgesamt arbeiten dort fast 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Den Zivildienst absolvierte Brandt 1981/82 in Hürth bei Köln. Er begleitete schwerst-körperbehinderte Männer, die in eigenen Wohnungen lebten. Die Einsatzstelle hatte er ganz pragmatisch ausgewählt. "Ich bin im Jahr 1961 geboren, dem geburtenstärksten Jahrgang der Bundesrepublik. Man musste die Stelle nehmen, die man finden konnte", sagt Brandt.
Der Zivildienst in Köln war sein erster Kontakt mit Menschen mit Behinderungen. Er hat ihm viele Berührungsängste genommen, sagt Brandt. Vor allem habe er ihm gezeigt, "dass Menschen nicht nach einem Leistungsprinzip, sondern nach ihren Fähigkeiten beurteilt werden sollten. Ich habe im Zivildienst behinderte und nicht behinderte Menschen kennengelernt, die mich beeindruckt haben." Eine Grundfrage ist ihm dabei bis heute wichtig: "Wer ist eigentlich behindert? Wer legt das fest?"
Diese Grundfrage ereilte ihn bei den späteren Berufsstationen immer wieder. Als er 1993 als Heimleiter in die Wohnstätten für Menschen mit Behinderungen im Diakonissenhaus Borsdorf bei Leipzig kam, war er sehr erstaunt, "mit welcher Fürsorge, aber auch mit welcher Überbehütung dort gearbeitet worden ist." Brandt fragte sich: "Behindern nicht manchmal gerade die Nicht-Behinderten die sogenannten Behinderten in ihrer Entwicklung?"
Solche Fragen sind für Brandt auch heute als Leiter des Fachbereichs Behindertenhilfe hochaktuell. Zum Beispiel, wenn er an neuen Wohn- und Bildungskonzepten zur Begleitung behinderter Menschen arbeitet. "Wir wollen die Lebensumstände so weit es geht normalisieren. Während man früher von Fürsorge und Betreuung sprach, sehen wir die Begleitung heute eher als Unterstützung und Assistenz in Richtung größtmögliche Selbständigkeit", sagt Brandt.
Josef Brandts Berufsweg:
1981/82 leistete er seinen Zivildienst in der individuellen Schwerstbehinderten-Betreuung in Hürth bei Köln. Er engagierte sich in der Friedensarbeit und studierte Politik, Sozialwissenschaft und Philosophie in Aachen. Privat kam er mit Menschen in Kontakt, die in der Inneren Mission in Leipzig mit Menschen mit Behinderungen arbeiteten. Er lehrte in einer Zivildienstschule, 1993 wurde er Heimleiter einer Wohnstätte für behinderte Menschen in Borsdorf. Seit 2005 verantwortet er den Fachbereich Behindertenhilfe und ist für knapp 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich.
Sandra Dürrling:
"Das FSJ hat mir auch die Grenzen des Helfen-Könnens gezeigt."
Sandra Dürrling arbeitet in der Kirchenbezirkssozialarbeit des Diakonischen Werks Leipzig. Sie berät in der Leipziger Innenstadt Menschen, die in Not sind oder mit Problemen zu kämpfen haben. Und sie plant und organisiert sogenannte gemeinwesenorientierte Projekte.
Im September 1993 begann sie mit ihrem Diakonischen Jahr im Jugendpfarramt Zwickau. "Ich war gerade 18 geworden. Und wollte nach dem Abitur herausfinden, ob ein Studium der Sozialpädagogik das Richtige für mich ist", sagt Sandra Dürrling. Sie entschied sich für einen Freiwilligendienst in der offenen Kinder- und Jugendarbeit in einem Zwickauer sozialen Brennpunkt. "Dort habe ich mich viel ausprobieren können und mehr Selbstvertrauen bekommen. Ich habe aber auch meine Grenzen kennengelernt. Zum Beispiel, dass man nicht unbegrenzt helfen kann, dass die eigenen Kräfte endlich sind."
Sandra Dürrling hat Sozialpädagogik studiert. Danach hatte sie als Beraterin in der Schwangerenkonfliktberatung, als Leiterin eines Jugendheims und als Leiterin eines Familienzentrums gearbeitet. Mittlerweile hat sie zwei Kinder und ist froh darüber, dass sie in ihrer jetzigen Stelle in der Kirchenbezirkssozialarbeit Familie und Beruf gut vereinbaren kann. Wenn Menschen mit Problemen oder in Lebenskrisen in ihre Beratungsstelle kommen, ist Fingerspitzengefühl gefragt.
"Die Sensibilität für die Mitmenschen wurde bei mir im Freiwilligendienst grundgelegt", sagt Dürrling. "Ich bin erst als Jugendliche zum Glauben gekommen und habe auch im Diakonischen Jahr viel mit Jugendlichen und Kindern ohne christlichen Hintergrund gearbeitet. Mir ist bis heute nicht wichtig, was für einen religiösen Hintergrund jemand hat", so Dürrling. Wenn Menschen mit Burn-Out, Depressionen oder bei einem Arbeitsplatzverlust mit Existenzängsten zu ihr kommen, interessiere sie vielmehr: "Wie geht es dem, mit dem ich gerade zu tun habe? Was braucht er oder sie jetzt?"
Menschliches Gespür und diplomatisches Geschick sind auch in ihrem zweiten Arbeitsfeld nötig: dem Aufbau von gemeinwesen-orientierten Projekten. "Wir haben eine Brückenfunktion zwischen den Kirchengemeinden und den Menschen ohne christliche Bindung, die sich gesellschaftlich engagieren." Durch das Engagement vieler ist zum Beispiel aus einem verwilderten Grundstück in Leipzig-Connewitz ein Stadtteilgarten geworden. Anwohner, Kirchgemeindemitglieder, Kindergärten und ein Berufsbildungswerk beteiligten sich oder nutzen den Garten einfach. "Es ist spannend, Menschen beim Entwickeln von Ideen zu helfen und diese nach und nach umzusetzen", sagt Dürrling. "Wenn ein Ort im Stadtteil aufblüht, sehe ich, dass man etwas bewirken kann."
Sandra Dürrlings Berufsweg:
Nach ihrem Diakonischen Jahr 1993/1994 im Ev.-luth. Jugendpfarramt Zwickau studierte sie Sozialpädagogik an der Berufsakademie Breitenbrunn/Erzgebirge. Anschließend arbeitete sie als Sozialarbeiterin, später als Leiterin im Jugendwohnprojekt "Heim statt U-Haft" beim CJD Chemnitz. Während und nach der Elternzeit bildete sie sich zur psychologischen Beraterin und Schwangeren-Konflikt-Beraterin fort. Mehrere Jahre arbeitete sie als Schwangerschaftskonfliktberaterin, zog nach Leipzig und ist seit 2007 als Sozialpädagogin in der Kirchenbezirkssozialarbeit der Diakonie tätig.
Thomas Hülse:
"Es ist wichtig, Menschen dazu zu befähigen, Verantwortung zu übernehmen."
Thomas Hülse leitet die Fachschule für Heilerziehung in Hamburg-Alsterdorf, eine Einrichtung der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Er ist der diakonischen Einrichtung seit seinem Zivildienst Mitte der 1970er Jahre verbunden geblieben. Dabei war sein erster Eindruck von der Einrichtung kein positiver: "Ich war schockiert, als ich 1974 nach Alsterdorf kam. Es war noch eine richtige Behinderten-Anstalt. 1300 behinderte Menschen lebten auf dem Gelände von der Außenwelt abgegrenzt hinter Zäunen." Thomas Hülse erschien das geradezu "mittelalterlich", auch das Arbeitsklima war ihm fremd. "Da gab es noch eine klare Hierarchie, von der Anstaltsleitung ganz oben bis zu den Behinderten als untersten Gliedern der Kette."
Zusammen mit zwei Pflegern betreute Hülse eine Gruppe von 22 vor allem körperbehinderten Männern. Nach dem Zivildienst studierte er Pädagogik und arbeitete weiterhin in der Einrichtung. Gegen die Wohn- und Arbeitsbedingungen für die behinderten Menschen bildete sich bald eine kleine "konspirative Gruppe", zu der auch Hülse gehörte. Ihr Ziel war, die Menschen aus der Isolation zu holen und ihnen ein Leben außerhalb der Anstalt zu ermöglichen.
So gingen sie Ende der 1970er an die Presse und machten die Wohn-Verhältnisse öffentlich. "Es lebten damals 1300 Behinderte in der Anstalt. Ich habe mal gesagt, wenn es nur noch 500 sind, habe ich mein Ziel erreicht und suche mir eine neue Beschäftigung", so Hülse. Heute leben nur noch gut 100 Menschen mit Behinderungen auf dem Gelände, Thomas Hülse ist immer noch dort.
Seit 1998 ist der Pädagoge Leiter der Fachschule für Heilerziehung. Seine grundlegende Erfahrung aus der Zeit des Zivildienstes gibt er an Schüler und Lehrkräfte weiter. "Es ist wichtig, Widerstand zu leisten gegen schlechte Gesellschaftsverhältnisse und Menschen dazu zu befähigen, individuell Verantwortung zu übernehmen. Das bleibt wichtig, auch wenn die äußeren Zäune in Alsterdorf verschwunden sind."
Behinderte Menschen aus der ehemaligen Anstalt Alsterdorf leben heute in kleinen betreuten Wohngruppen über die ganze Stadt verteilt. Und aus der Alsterdorfer Anstalt ist auch architektonisch eine moderne, offene Einrichtung geworden. Es gibt Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für behinderte und nicht-behinderte Menschen, sogar ein lebendiger Marktplatz ist neu entstanden.
Thomas Hülses Berufsweg:
Nach dem Zivildienst 1974 bis 1976 in der "Anstalt Alsterdorf" studierte er an der Universität Hamburg Lehramt an Sonderschulen und Germanistik. Nach dem Referendariat wurde er fester Mitarbeiter in einer Wohngruppe in Alsterdorf. 1987 wurde er Lehrer an der Sonderschule Alsterdorf, ab 1989 stellvertretender Schulleiter der allgemeinbildenden Alsterdorfer Schulen. Von 1995 bis 1998 leitete er die Gesamtschule. Seitdem ist Hülse Schulleiter der Fachschule für Heilerziehung in Hamburg-Alsterdorf.
Text: Friedemann Sommer
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